Meine Ostergeschichte

In allen anderen Vorgärten hängen schon Wochen vor Ostern die ausgeblasenen und dann bemalten Hühnereier oder die Plastikeier im Wind, in den Regalen reihen sich die Osterhasen.
Nur ich will den Osterbaum erst am Ostersonnabend schmücken.
Denn: Seit meinem sechsten Lebensjahr bin ich in der Woche vor Ostern beklommen. Ich muss in der Karwoche täglich daran denken, was Er an diesem Tag gerade macht: Am Palmsonntag auf einem Esel der bejubelte Einzug in Seine Stadt, beim letzten Abendmahl, am Ölberg, wie Er verraten und verhaftet wird, wie Er als angeklagter Aufrührer vor Pilatus steht, der Ihn sogar begnadigen würde, denn ihm ist gart nicht wohl bei dem Todesurteil, wie Er Sein Kreuz den Berg hinaufträgt, wie links und rechts von Ihm Mörder hängen, wie der Himmel aufreißt, als Er stirbt. So geht das bis Karfreitag.
Nun bin ich eine alte Frau, dreiundsiebzig Jahre älter als damals im Religionsunterricht; denn ich wurde in eine Klasse eingeschult, die nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 begann. Wir hatten alle Religionsunterricht, obwohl wir im russischen Sektor Berlins wohnten. Mit Zensuren. Wir nahmen auch Ostern durch, ohne Filter, ich weiß bis heute nicht was sich unsere Religionslehrerin dabei dachte, vielleicht hatte sie im Krieg Schreckliches erlebt, der war ja erst ein halbes Jahr vorbei, und war gefühllos und mitleidslos mit uns kleinen Kindern geworden: Jedenfalls schmückte sie den Kreuzgang und die Kreuzigung mit allen Details aus, das hatte der Herr für uns gelitten, sagte sie, für dich auch, Helga, ja, am Karfreitag, O Haupt voll Blut und Wunden, mit Dornenkrone und Nägeln in Händen und Füßen.
Ich habe in dieser Woche „Auferstehung kindgerecht“ gegoogelt und gelesen, was es für hübsch Illustrierte Kinderbücher gibt mit den Jüngern und dem Abendmahl. Die Kreuzigung wird in diesen heutigen Kinderbüchern als übliche Strafe in der damaligen Zeit beschrieben. Heute beruhigt man die Kinder, dass es Beistand für Ihn gab, Leute, die Ihm am Kreuz die Wunden kühlten, seine Lippen benetzten, als Er Durst hatte, Ihn vom Kreuz nahmen und bestatten durften.
Und dann sind die heutigen Kinderbücher auch schon ganz schnell beim Auferstandenen.
Das ist das Osterwunder, das kann man glauben oder nicht, auch dass Er nach Seiner Auferstehung wieder mit Seinen Jüngern, Seinen Freunden zusammen war, ehe Er in den Himmel fuhr einige Wochen später.
Und wenn du daran glaubst, dann geht es dir gut damit, steht in den heutigen Kinderbüchern, denn dann ist immer jemand da, der mit dir geht.

Bis auf die Woche vor Ostern, wie gesagt, da muss ich sehen, wie ich in diesem Wechselbad klarkomme. Da hat Er mit sich selbst zu tun, mit Seiner Todesangst und auch mit Seinem Vater und dessen Beschlüssen.
Bis Ostersonntag um zehn Uhr. Bis die schwarze Decke vom Altar genommen wird von einem Menschen, der viele Jahre Theologie studiert hat und nun sagt: Er ist auferstanden, Er ist wahrhaftig auferstanden.
Dann bin ich bis zum nächsten Palmsonntag erleichtert.
Ganz anders in meiner Kindheit: Als Sechsjährige packte mich die Wut auf den Verräter, der Ihm auch noch einen Kuss gibt, damit Ihn die Polizei, die Ihn sucht, auch ja erkennt und verhaften kann.
Das ist alles nicht so gewesen, sagte meine Mutter zu mir, als ich deshalb aufgeregt aus der Schule nach Hause kam. Sie glaubte nicht an Gott: Aber du musst schön in der Schule aufpassen, denn sonst versteht du die Bilder im Museum nicht. Oder wenn es im Theater vorkommt oder in Büchern davon die Rede ist.
Mein Vater hat es mir nicht erlaubt, in den Religionsunterricht zu gehen, sagte meine Mutter zu mir. Und darum musste sie manchmal im Lexikon nachsehen, wenn sie ratlos vor einem Rembrandt- oder Michelangelo-Bild gestanden hatte.
Heute weiß ich: In dieser eine Woche vor Ostersonntag passiert alles, was ich inzwischen vom Leben verstanden habe:
Wie schnell sich das Schicksal für einen Menschen ändert, dass man verraten werden kann.
Dass es immer unvermuteten Beistand gibt und einen Ausweg. An diese Hoffnung will ich erinnert werden.
Einmal im Jahr.

Helga Schubert, veröffentlicht im Buch „Vom Aufstehen“