Predigt über Johannes 8,1-11
Gehalten von Pfarrerin Dr. Christiane Bindseil am 10. Juli 2022 in der Petruskirche Heidelberg-Kirchheim. Vielen Dank für die freundliche Freigabe.
Ordnung muss sein. Ordnung ist der Versuch, Chaos zu bekämpfen, immer und immer wieder.
Oft ist es schwer auszuhalten, wenn andere Menschen andere Vorstellungen von Ordnung haben als ich. Das fängt an bei der Ordnung im Schulranzen und im Hausflur und birgt gesellschaftliches und globales Konfliktpotential wenn es um die Frage nach religiöser und politischer Ordnung geht. Wenn die eigene Ordnung in Frage gestellt wird, dann ist das bedrohlich. Dann macht das Angst. Und Angst schlägt schnell um in Aggression und Gewalt.
Johannes 8, 1ff
1 Jesus aber ging zum Ölberg. 2 Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem anderen, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11 Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
Wenn die eigene Ordnung in Frage gestellt wird, macht das Angst und es macht aggressiv. Das ist auch der Grund, warum die Pharisäer nicht gut auf Jesus zu sprechen sind. Er bedroht die alte, ehrwürdige jüdische Ordnung von innen heraus – und das, obwohl sie eh schon so vielen äußeren Gefahren ausgesetzt ist durch die römische Besatzung. Er hinterfragt die steinernen Ge-
bot Mose. Er predigt Barmherzigkeit, wo doch das Gesetz streng und klar ist; was für ein Chaos da droht. Das macht Angst. Das muss bekämpft werden. Und schon ist die Gewalt im Gang. Alles nieder, was nicht meiner Vorstellung von Ordnung entspricht und damit meine Macht bedroht.
Die Frau, in einem fremden Bett ertappt, kommt den Pharisäern sehr gelegen. Sie schleppen sie in den Tempel, zu Jesus, um ein Exempel zu statuieren. Es geht ihnen wenigere um die Frau selbst, vielmehr wollen sie Jesu Verhältnis zur Ordnung vor aller Augen und Ohren unmöglich zu machen.
Gemeinsam mit der Frau wollen sie das Chaos vernichten, das Jesus auszulösen droht mit seiner Verkündigung von Freiheit und Liebe. Wenn jeder, so wie diese Ehebrecherin… was für ein Chaos, nicht auszudenken…. Mit geballten Fäusten drängen sie in den Tempel, zu Jesus, in jeder Faust einen Stein.
Sie bringen Jesus in die Zwickmühle: Entweder, er spricht sich gegen die Steinigung aus, dann stellt er sich explizit gegen das Gesetz des Mose, oder er befürwortet die Steinigung, dann verantwortet er den Tod der Frau und macht seine eigenen Verkündigung der Barmherzigkeit völlig unglaubwürdig.
Wie entkommt Jesus dieser Zwickmühle?
Zunächst einmal: Er lässt sich nicht drängen. Er nimmt sich Zeit. Denkt nach. Wartet auf eine Eingebung. Betet. Schweigt. Und hört. Auf ein Wort von jenseits des Geschreis der Leute. Auf ein Wort von jenseits der bohrenden Fragen. Jesus hört auf den Geist, der das Gesetz erschließt, neu erschließt, für die Schriftgelehrten, für die aufgebrachte Menge, für die Frau, für ihn selbst.
Mit den Fingern zeigen die Leute auf die Frau. Jesus schreibt mit dem Finger in den Sand. Auf steinernen Tafeln wurden einst die Gebote an das Volk Israel übergeben. Und Jesus schreibt mit dem Finger in den Sand. Sand kann man immer wieder wegwischen und es neu versuchen. Sand hat keinen Anspruch auf Ewigkeit. Genauso wenig wie unser Verstehen, wie unsere Ordnungen Anspruch auf Ewigkeit haben dürfen. Und wo Menschen ihre eigene, menschliche Ordnung als ewige durchsetzen wollen, da wird es grausam.
Jesus schreibt in den Sand. Er stellt das Gebot nicht in Frage, wohl aber unser Weise, die Gebote zu verstehen und fortzuschreiben. Und: Er lässt Gottes Geist darüber wehen. So beginnt die Zwickmühle, sich zu lösen. Und noch etwas tut Jesus, um die Zwickmühle zu lösen: Er bückt sich. Eine Geste der Demut. Dadurch verändert er nicht nur seine eigene Perspektive, sondern auch die Perspektive derer, die um ihn stehen. Sie starren nicht mehr auf ihn, sie schauen jetzt einander an, wie sie da im Kreis stehen. Sie nehmen sich gegenseitig wahr. Mit ihren geballten Fäusten und den Steinen in den Fäusten. Sehen gegenseitig ihre Gewaltbereitschaft. Sehen das Leid und das Chaos, das sie im Kampf für ihre vermeintliche Ordnung verursachen. Sie sehen auf sich selbst und in ihre eigenen Abgründe. Auch die Pharisäer tragen vermutlich geheime Sehnsüchte in sich, dieser oder einen anderen Frau gegenüber. Was wissen wir über den Zustand ihrer eigenen Ehen, die nach außen vielleicht sehr in Ordnung gehalten werden, aber innen drinnen?? Je mehr Grund sie haben, das Chaos in ihrem eigenen Leben zu fürchten, um so mehr wollen sie es außen bekämpfen, die Frau steinigen.
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein – das ist der Schlüssel, um die Zwickmühle endgültig zu lösen. Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Türen werden aufgestoßen. Für die Frau: die Tür zu einem neuen Leben. Für die Pharisäer: die Tür zwischen Ordnung und Chaos. Und es ist erstaunlich: Die Welt, ihre Welt geht dabei nicht unter.
Sie erkennen sogar: Es ist besser, dem Chaos ins Auge zu sehen, es zu erkennen und anzunehmen, als steinigen zu wollen.
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Alle anderen: Öffnet die Tür, mit der ihr das Chaos zu verbannen versucht. Schaut dem Chaos ehrlich in die Augen, im Vertrauen darauf, dass Euer Gott, der aus dem Chaos heraus die Schöpfung hervorrief, dass der auch mit eurem Chaos zurechtkommen wird.
Vertraut darauf, dass Gottes Geist Neues schafft, wenn ihr zulasst, dass das Chaos die Ordnung berührt und dass Gottes Geist darüber weht. Jesus bückt sich wieder und schreibt in den Sand. Nach und nach verlassen die Ankläger die Szene, bereit, hoffentlich, sich ihrem eigenen Chaos zu stellen.
Und als Jesus sich wieder aufrichtet, liegen die Steine im Sand. Er ist allein mit der Frau, die immer noch in der Mitte steht, wie es heißt. Aber in welcher Mitte? Zuerst stand sie in der Mitte der anklagenden Menschen. In der Mitte von durch Hass bekämpfter Lebensangst, in der Mitte ihrer eigenen Verzweiflung und Todesangst. Dann in der Mitte der Leere. Einer nach dem anderen sind sie gegangen.
Und jetzt?
Geh hin und sündige hinfort nicht mehr, sagt Jesus zu ihr. Und ich stutze. Geh hin – ja, wo soll diese Frau denn bitte schön hingehen? Zu ihrem Ehemann, den sie noch nie mochte und der sie vom ersten Tag an geschlagen hat und sie jetzt wahrscheinlich totprügeln würde?
Zum Liebhaber, der ihr einziger Funke Glück war, aber längst über alle Berge ist und sich eine andere, eine anständige Frau suchen wird? Zu ihren Eltern, Geschwistern? Unmöglich, bei der Schande. Allein leben? Undenkbar für eine Frau in der damaligen Zeit. Bliebe nur die Prostitution, um nicht zu verhungern. Und dann sagt Jesus: Geh hin und sündige hinfort nicht mehr. Ja, wohin soll sie denn gehen?
Es wird nirgends erzählt, wie es weiter geht mit der Frau. Aber es ist ja nicht irgend jemand, der diesen Satz sagt, geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
Es ist Jesus selbst. Jesus ist niemand, der die Leute mit guten Ratschlägen abspeist und dann sitzen lässt bzw. wegschickt. Und weil Jesus das sagt, höre ich genauer hin und höre in diesem Satz die Zusage: Geh hin, du brauchst nicht mehr zu sündigen, du wirst es schaffen. Du wirst es schaffen, deinen Weg mitten im Chaos zu finden und zu leben in der Barmherzigkeit.
Die Frau steht in der Mitte. Jetzt steht sie in der Mitte von Jesu Barmherzigkeit. Und in dieser Barmherzigkeit wird sie ihren Weg weiter gehen. Ich stelle mir vor, dass sie bei Jesus bleibt, mit seinen Jüngerinnen und Jüngern, in seiner Nachfolge. Kein einfacher Weg wird das werden. Wir wissen, in welches Chaos Jesus selbst geraten wird und was ihm noch bevorsteht. Und dennoch ist es der Weg des Lebens. Sie wird diesen Weg gemeinsam mit Menschen gehen, die erfahren haben, wie grausam menschengemacht Ordnung sein kann und wie gut es ist, die eigenen Ordnungswünsche und Chaosängste Gott anzuvertrauen und sich von seinem Geist berühren zu lassen. Sie wird diesen Weg gehen gemeinsam mit Menschen, die wissen, dass niemand von ihnen ohne Sünde ist und wie sehr sie alle auf Barmherzigkeit angewiesen sind. Und sich selber in dieser Barmherzigkeit einüben, scheitern, es neu versuchen. In der Gewissheit, dass sie ihren Weg in der Mitte der Barmherzigkeit Jesu gehen.
Und der Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen